Als sich ihr Sohn Sebastian im Frühjahr 2006 binnen weniger Wochen von einem munteren Dreijährigen zu einem krampfgeplagten, apathischen Bündel Mensch wandelt, ahnen die Bopps noch nicht, dass der Junge der weltweit erste bekannte Fall ist, bei dem ein genetischer Defekt verhindert, dass das Gehirn mit dem lebenswichtigen Vitamin B9 (auch bekannt als Folat) versorgt wird. Während für Sebastian eine Odyssee durch Spezialkliniken beginnt, entwickelt seine zwei Jahre jüngere Schwester bald ähnliche Symptome. Auch sie leidet unter cerebraler Folattransportdefizienz (CFTD), wie die frisch entdeckte Erkrankung im Jahr 2009 getauft werden wird.
CFTD ist eine von etwa 8000 Seltenen Krankheiten. Darunter fallen in der EU all jene Erkrankungen, die maximal fünf von 10.000 Personen betreffen. Die große Mehrzahl dieser Krankheiten ist genetisch bedingt – Heilung oder zumindest einen Therapieansatz gibt es nur für die allerwenigsten. Und wenn, dann gehen dem zumeist Jahrzehnte der Forschung voraus. Statistisch gesehen haben Sebastian und seine Schwester kaum Chancen zu überleben.
Aber die Bopps geben nicht viel auf Statistiken. Sie kämpfen um das Leben ihrer Kinder, mit dem Mut der Verzweiflung. Zusammen mit dem Mediziner, der bei Sebastian CFTD diagnostiziert hat, tüftelt die promovierte Chemikerin Gabriela Bopp an einem Weg, das Folat in das Gehirn ihrer Kinder zu transportieren. Zuerst oral, dann intravenös und schließlich über ein Depot direkt unter der Schädeldecke. „Das war eine Therapie weit jenseits dessen, was zu dieser Zeit bekannt war“, sagt ihr Mann Robert. „Wir haben das probiert in dem Bewusstsein, dass, selbst wenn wir Sebastian vielleicht nicht retten können, wir wenigstens unserer Tochter helfen.“
Ein Weg, der immer wieder zu Erfolgsgeschichten führt, ist die Verwendung von Medikamenten, die bereits für andere Krankheiten zugelassen sind. Dieses sogenannte „Drug Repurposing“ kann die Therapiefindung für seltene Krankheiten deutlich beschleunigen: „Dann brauchen Sie nicht mehr die ganzen Sicherheits- und Verträglichkeitsstudien. Die wurden ja schon im Rahmen der Zulassung für eine andere Erkrankung gemacht“, sagt Gärtner.
Diese Doppelnutzbarkeit funktioniere aber auch in die andere Richtung: „Die Forschung an seltenen Krankheiten ist nicht isoliert. Es gibt viele Verbindungen zu Volkskrankheiten."