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Forschung

Digitalisierung bietet mehr Chancen als Risiken für die Seltenen

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Rückblick auf das Rare Disease Symposium 2020

Dass die digitale Revolution in der Medizin auch vor den Seltenen Erkrankungen nicht halt macht, ließ schon das Programm des 5. Rare Disease Symposiums der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung am 27./28. Februar 2020 in Berlin erahnen. Das überwältigende Interesse an der mit rund 180 Teilnehmer*innen ausgebuchten Veranstaltung bewies, dass das Thema für Menschen, die sich aus beruflichem Interesse oder aus persönlichere Betroffenheit mit Seltenen Erkrankungen befassen, hochaktuell ist.

An die systematische Nutzung digitaler Gesundheitsdaten knüpfen sich große Hoffnungen, bisher nur unzureichend erforschte Krankheiten besser zu verstehen und künftig zielgerichteter zu behandeln. Doch ergeben sich angesichts der immer umfassenderen Erhebung, Verknüpfung und Auswertung überaus sensibler Daten auch eine Vielzahl datenschutzrechtlicher und ethischer Fragestellungen: Welche Risiken müssen diskutiert werden? Wem macht man die schon heute zuhauf anfallenden Gesundheitsdaten zugänglich und warum, unter welchen Anwendungsszenarien? Und nicht zuletzt: Wie stellen wir dabei sicher, dass die Patient*innen und ihre Angehörigen auf Augenhöhe in diese wichtigen Entscheidungsprozesse eingebunden werden können?

Daher kam es nicht von ungefähr, dass der Bundesdatensschutzbeauftragte die Eröffnungskeynote hielt. Professor Ulrich Kelber ließ jedoch schnell durchblicken, dass datenschutzrechtliche Herausforderungen zwar durchaus bestehen, jedoch seines Erachtens zu bewältigen seien und die Chancen eines volldigitalisierten Gesundheitswesens, insbesondere für Patienten mit seltenen chronischen Krankheiten deutlich überwiegen werden. Allerdings sei es wichtig, von Anfang an alle Rechte der Patientinnen und Patienten zu wahren und insbesondere den Schutz der Patientendaten sicherzustellen.

Dr. Jörg Richstein von der Interessengemeinschaft Fragiles-X gab Einblicke in die Wünsche und Hoffnungen der Betroffenen – und als promovierter Mathematiker zunächst eine kurze Einführung in die Grundlagen der Digitalisierung, um schließlich auch seinerseits kurz auf ungelöste Detailfragen des Datenschutzes und der Datensicherheit einzugehen. Er hält Digitalisierung für ein zeitgemäßes Werkzeug, aber keine Wunderwaffe.

Einen vielversprechenden Ansatz zur Verbesserung standortübergreifender Strukturen für Forschung, Aus- und Weiterbildung im Bereich der Seltenen Erkrankungen stellte anschließend Prof. Dr. Angela Hübner mit dem Clinician Scientists Programm “R.I.S.E. – Rare Important Syndromes in Endocrinology” vor. Im Rahmen des Verbundprojekts der Universitätskliniken München, Würzburg und Dresden werden sechs Nachwuchswissenschaftler*innen während ihrer fachärztlichen Weiterbildung ein strukturiertes Ausbildungsprogramm durchlaufen, das sie in besonderem Maße wissenschaftlich qualifizieren und die Forschung zu seltenen endokrinologischen Syndromen voranbringen soll. Das Forschungskolleg wird nach einer gemeinsamen Ausschreibung von Else Kröner-Fresenius-Stiftung und Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für drei Jahre mit insgesamt 1 Million Euro gefördert.

Um die Digitalisierung in der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen und die Versorgungsforschung ging es im nächsten Vortrag, in dem Prof. Josef Hecken vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) kurz die Arbeitsweise des dort angesiedelten Innovationsfonds skizzierte. Seit 2016 standen dem Fond jährlich 300 Mio. Euro zur verfügung, mit denen seither 150 Projekte zu neuen Versorgungsformen und 230 im Bereich der Versorgungsforschung gefördert wurden. Die riesige Bandbreite der Projekte beweise das hohe Innovationspotenzial von Leistungserbringern und Krankenkassen, das zudem noch längst nicht ausgeschöpft sei, zeigte sich Prof. Hecken überzeugt. Deshalb sei die im Digitale-Versorgung-Gesetz vorgesehene Verlängerung des Innovationsfonds über die ursprünglich vorgesehenen vier Jahre hinaus ein sehr wichtiger und zukunftsweisender Schritt.

Das Programm des ersten Tages endete mit einer Podiumsdiskussion zum Thema “Gendiagnostik, Big Data und KI – wie viel Wissen uns gut tut?”, in deren Rahmen Dr. Franziska Krause vom Universitätsklinikum Heidelberg gemeinsam mit dem Göttinger Medizin- und Biorechtler Prof. Dr. Gunnar Duttge, dem Humangenetiker Prof. Dr. Ingo Kurth und Dr. Jörg Richstein als Patientenvertreter den schmalen Grat zwischen neuen diagnostischen Möglichkeiten und dem Recht auf Nichtwissen auslotete.

Der zweite Veranstaltungstag stand zunächst ganz im Zeichen der Medizininformatik-Initiative (MII), die seit 2016 vom BMBF gefördert daran arbeitet, Patientendaten, die während eines Klinikaufenthalts entstehen, bundesweit digital zu vernetzen. Da dies selbstverständlich nicht ohne Einverständnis der Patient_innen geschehen kann, ging es bereits im Eröffnungsvortrag um das Konzept des Broad Consent.

Dr. Christoph Schickhardt vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) legte dar, vor welche Herausforderungen die Zustimmung zur Datenfreigabe Forscher*innen stellt und wie angemessene Partizipationsmöglichkeiten für Patient*innen sichergestellt werden können. Das Ziel müsse stets sein, einen angemessenen und gerechten Governance-Rahmens zu schaffen, der das Vertrauen der Patient*innen und der Öffentlichkeit verdient und sichert.

Da die Seltenen Erkrankungen im Rahmen der MII erfreulicher Weise besondere Aufmerksamkeit erhalten, gaben deren führende Köpfe, Prof. Sylvia Thun und Dr. Josef Schepers vom BIH, anschließend einen umfassenden Statusbericht. Dabei stellten sie insbesondere die „Collaboration on Rare Diseases (CORD-MI)”, einem Teilprojekt, in dem erstmals die Daten exemplarischer Fälle zusammengeführt und datenschutzkonform ausgewertet werden sollen, vor.

Weil ein lernendes, digital vernetztes System ganz entscheidend vor der Qualität der zugrundeliegenden Daten abhängt, appellierte Professorin Thun, dass Patientendaten nicht länger primär nur zu Abrechnungszwecken erhoben, sondern klinische Phänomene abbilden und der Diagnostik und Therapie dienen sollten. Zudem müssten die Daten stärker strukturiert und auf internationalen Standards basierend erfasst und für die Forschung zugänglich gemacht werden.

Doch offenbart sich hier, an den Grenzen dessen, was an den Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) geleistet werden kann, wie üblich die Achillesferse des Systems. Bereits am Vortag hatte Eva Luise Köhler  deshalb angemahnt, dass die umfangreichen Dokumentationsarbeiten, die an den ZSE geleistet werden müssen, durch eine spezifische Finanzierung sichergestellt sein müsse, damit sich das volle Potenzial von CORD-MI entfalten könne.

Einen praxisnahen Einblick in die Methoden zur Analyse von Patientendaten gab im Folgenden Prof. Dr. Martin Boeker, der als Standortleitung die MII am Universitätsklinikum Freiburg vorantreibt.

Praxisnah blieb es auch nach der Kaffeepause: Denn während der postalisch versandte Arztbrief und auf vielen Normalstationen auch Papierakten noch immer zum Alltag gehören, wurde am Universitätsklinikum Heidelberg bereits PEPA, eine einrichtungsübergreifende elektronische Patientenakte, eingeführt. Von ersten Erfahrungen berichtete PD Dr. Daniela Choukair.

Auch Prof. Dr. Martin Hirsch konnte einen sehr konkreten Erfahrungsbericht liefern – schließlich hat er als einer der der ersten mit Ada Health ein KI-basiertes System zur Diagnoseunterstützung zur Marktreife geführt. Für solche Systeme, die Ärzte*innen beispielsweise bei der Einschätzung von Passgenauigkeit und Wahrscheinlichkeiten verschiedener Diagnosen helfen, sieht er vielfältige Einsatzmöglichkeiten. Schließlich seien KI-Systeme hier schon deshalb im Vorteil, weil sie zur Absicherung einer Diagnose viele, viele Fragen stellen können, da sie – im Gegensatz zu Ärzt*innen – keinen Zeitdruck haben.

Dr. Gottfried Ludewig vom Bundesgesundheitsministeriums bezeichnete in seiner Keynote die  Verknüpfung von Versorgung und Forschung als die zentrale Herausforderung der Digitalisierung und betonte, wie unerlässlich es sei, die sich bietenden Chancen jetzt entschlossen zu ergreifen. Es werde viel über die Risiken der Digitalisierung gesprochen, konstatierte er – aber welches Risiko ergebe sich, wenn vorliegende Daten nicht für die Forschung genutzt würden? “Wir brauchen Daten. Sonst werden wir im Wettbewerb nicht bestehen”, so sein eindringlicher Appell.

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