Rare Barometer: Sollte bei der Geburt standardmäßig auf Seltene Erkrankungen untersucht werden?

EURORDIS, die Europäische Organisation für Seltene Erkrankungen, repräsentiert als nicht-staatliche, patientengeführte Allianz von Patientenorganisationen die Stimme von geschätzt 30 Millionen Menschen in Europa, die von einer Seltenen Erkrankung betroffen sind. Mit der Initiative Rare Barometer Voices werden Meinungen und Erfahrungen von Betroffenen erfasst. Ziel dieses wissenschaftlichen Projektes ist, herauszuarbeiten, was die Betroffenen bewegt zu Themen wie z. B. der Pflege oder dem Alltag mit einer Seltenen Erkrankung. Die Erkenntnisse werden in Zahlen und Fakten umgewandelt, die wiederum einer in der Politik und dem Gesundheitswesen eingebracht werden können.

Die aktuelle Rare Barometer Umfrage ist Teil des Forschungsprojekts Screen4Care. Bis zum 9. Juli 2023 werden Meinungen zu möglichen positiven und negativen Auswirkungen eines Neugeborenenscreenings für Seltene Erkrankungen erfragt. Die Fragen beziehen sich beispielsweise auf Ängste und Befürchtungen, den Zugang zu Versorgung oder mögliche Auswirkungen auf das Familienleben.

Die Teilnahme an dieser Umfrage dauert etwa 20 Minuten. Die Ergebnisse der Umfrage werden sowohl an die Teilnehmenden als auch an Entscheidungsträger übermittelt. Alle Antworten werden anonym und sicher gespeichert, nur das  Umfrageteam hat Zugriff darauf. Weltweit können alle Menschen mit einer Seltenen Erkrankung, ihre Familienmitglieder und Betreuungspersonen an dieser Umfrage teilnehmen. Sie wurde in 24 Sprachen übersetzt.

Violetter Hintergrund, Foto eines Mannes, der ein Kind umarmt, dazu der Schriftzug "Ihre Meinung zu Untersuchungen auf Seltene Erkrankungen zählt!"

Auszeichnung einer Therapieentwicklung für die neurologische Erbkrankheit PCH2a

15. Eva Luise Köhler Forschungspreis geht an Tübinger Hirnforscherin und Elterninitiative

Berlin, 31. Mai 2023 – Eva Luise Köhler verleiht am Freitag, 9. Juni 2023 um 17 Uhr im Beisein von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften den nach ihr benannten Forschungspreis an die Molekularbiologin Dr. Simone Mayer vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und der Universität Tübingen.

Mit ihr zusammen werden Dr. Julia Matilainen und Dr. Axel Lankenau vom Selbsthilfeverein PCH-Familie ausgezeichnet. Dass der renommierte Forschungspreis für Seltene Erkrankungen erstmals auch an eine Vertreterin und einen Vertreter einer Patientenorganisation geht, unterstreicht die Relevanz von intersektoraler Zusammenarbeit und Allianzen mit den Betroffenen im Bereich der Seltenen Erkrankungen.

Winzige Genveränderung mit weitreichenden Folgen

Die Pontocerebelläre Hypoplasie Typ 2 (PCH2) ist eine sehr schwere neurologische Entwicklungsstörung bei Kindern. Sie wird durch einen einzigen vertauschten DNA-Baustein verursacht. Die winzige Genveränderung, die nur bei etwa einem von einer Millionen Menschen auftritt, bedingt eine Störung der Entwicklung bestimmter Hirnareale, die zu erheblichen Einschränkungen der psychomotorischen Entwicklung führt. Die meisten betroffenen Kinder sterben, noch bevor sie das Jugendalter erreichen.

Organoid-Forschung weckt Hoffnung auf Behandlung von PCH2a und weiteren Erkrankungen

Mit dem Preisgeld wird Dr. Simone Mayer aussichtsreiche Wirkstoffkandidaten zur Behandlung von PCH2a, der häufigsten Form von PCH2, überprüfen. Gemeinsam mit ihrer Forschungsgruppe am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen nutzt sie dazu Hirnorganoide, die aus gespendeten Hautzellen von PCH2a-betroffenen Kindern erzeugt werden. Diese Gewebestrukturen können außerhalb des menschlichen Körpers dreidimensional wachsen und die zelluläre Architektur sowie bestimmte funktionale Aspekte von Gehirnarealen imitieren. Hirnorganoide gewähren Forschenden somit Einblicke in die frühe Gehirnentwicklung und die Entstehung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen. Zudem ermöglichen sie die Untersuchung der Effekte von Medikamenten, Giftstoffen, Keimen oder Viren sowie genetischer Variabilität auf menschliche Gehirnzellen und die Gehirnentwicklung.

„Mit der Aufklärung der Mechanismen, die zur Ausprägung der Krankheit führen, erfolgt ein wichtiger Schritt. Auch wird untersucht, ob sich Therapieansätze, die derzeit für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer in der Prüfung sind, im Krankheitsmodell als belastbar erweisen“, erklärt Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich, Kinderärztin und Vorstandsvorsitzende der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung. „Wie so häufig könnte sich auch hier zeigen, dass die Forschung zu einer Seltenen Erkrankung zu einem besseren Verständnis von häufigeren Krankheiten führt.“

Vernetzung ist entscheidend für den Erfolg

Um eine sehr seltene Krankheit besser zu verstehen, braucht es neben Zeit und Geld vor allem Vernetzung zwischen Betroffenen und Forschenden. Im Fall der diesjährigen Forschungspreisträger gelingt dies vorbildlich, wie Eva Luise Köhler, die auch Schirmherrin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen ACHSE e. V. ist, hervorhebt: „Julia Matilainen, Axel Lankenau und die anderen engagierten PCH-Familien machen sich neben ihren Aufgaben in der Pflege ihrer Kinder mit viel Zeit und Energie für mehr Austausch und Forschung stark. Und mit Dr. Simone Mayer treffen sie auf eine Forscherin, die die Expertise der Familien wertschätzt und in ihre Arbeit einbezieht. Hier wird beeindruckend deutlich, was ein enger Schulterschluss im Bereich der Seltenen Erkrankungen bewegen kann!“

Internationale Unterstützung bei der Suche nach Entschlüsselung von PCH2

Auch international finden Simone Mayer und der Verein PCH-Familie Anerkennung: Im Dezember 2022 sicherte die Chan Zuckerberg Initiative finanzielle Unterstützung in Höhe von zwei Millionen US-Dollar für die Suche nach den Grundlagen von PCH2 zu. Mit diesen Fördermitteln wird weiter an einem Verständnis der zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen geforscht.

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Fotos zum Download:

Dr. Simone Mayer

Dr. Julia Matilainen mit Linus

Dr. Axel Lankenau mit Felix und Jonas

Biographische Informationen zu den Preisträgern

Pressekontakt: Eva Thull, thull@elhks.de

Dr. Simon Badura, Universitätsmedizin Göttingen

Seltene Erkrankungen betreffen in acht von zehn Fällen Kinder und Jugendliche. Ihre Teilhabe am medizinischen Fortschritt hängt daher ganz entscheidend von engagierten Pädiater:innen ab, die sich dem Spagat zwischen Krankenbett und Labor mit Hingabe stellen. Um forschende Kinderärzt:innen auf diese anspruchsvolle Aufgabe vorzubereiten und ihnen die nötigen Freiräume für wissenschaftliches Arbeiten auf hohem Niveau zu verschaffen, setzt das von der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung initiierte Forschungsnetzwerk Alliance4Rare unter anderem auch auf strukturierte Clinician Scientist Programme (CS4RARE). Diese ermöglichen den Teilnehmenden geschützte Forschungszeiten, in denen sie von klinischen Aufgaben freigestellt wissenschaftliche Projekte zu Seltenen Erkrankungen vorantreiben können.

Einige der Stipendiat:innen, die kürzlich ihre Arbeit aufgenommen haben, stellen sich und ihre Projekte vor.

Lieber Herr Dr. Badura, Sie sind für das Clinician Scientist-Programm der Alliance4Rare ausgewählt worden. Was hat Sie motiviert, diesen besonderen Weg in Wissenschaft und Klinik einzuschlagen?

In der Universitätsmedizin haben wir häufig Kontakt zu Kindern und Jugendlichen mit seltenen und komplexen Krankheitsbildern. Durch die stetig besser werdenden diagnostischen Möglichkeiten gelingt es uns zunehmend, auch bislang unklaren Erkrankungen einen Namen zu geben. Dies hilft den betroffenen Familien häufig, besser mit der Erkrankung umgehen zu können.

Ein großes Ziel für die Zukunft der Pädiatrie ist es, Behandlungsstrategien zu entwickeln und Patientinnen und Patienten passgenau helfen zu können. Dafür ist es notwendig, die pathophysiologischen Grundlagen von Seltenen Erkrankungen zu verstehen. Das Clinician Scientist-Programm der Alliance4Rare ist eine einmalige Gelegenheit, klinische Arbeit und Forschung für die Seltenen Erkrankungen im Arbeitsalltag zu kombinieren.

Woran arbeiten Sie momentan und was möchten Sie erreichen?

Die alternierende Hemiplegie des Kindesalters (Alternating Hemiplegia of Childhood, AHC), das rasch-beginnende Dystonie-Parkinson Syndrom (Rapid-Onset Dystonia-Parkinsonism, RDP, DYT12) und das CAPOS-Syndrom (cerebelläre Ataxie, Areflexie, Pes cavus, Optikusatrophie, sensorineurale Schwerhörigkeit) gehören zu einer Gruppe seltener neurologischer Erkrankungen, die durch Mutationen im ATP1A3-Gen verursacht werden.

Für keine dieser Erkrankungen gibt es bislang keine kausalen Therapien, die Patienten leiden unter einer Vielzahl von schmerzhaften Symptomen und müssen wiederholt belastende diagnostischen Maßnahmen ertragen. Ziel des Forschungsvorhabens ist, mit Hilfe von hochmodernen 3D-Zellkulturmodellen (Bioengineered Neuronal Organoids (BENOs)) aus humanen Stammzellen die der jeweiligen Krankheitsentität zugrundeliegende Pathophysiologie zu identifizieren und daraus ableitbare therapeutische Optionen für die betroffenen Patienten zu entwickeln.

Wir möchten mit unserer Forschung dazu beitragen, dass wir die Versorgung und damit die Lebensqualität dieser Patienten verbessern und Ihnen diese belastenden Untersuchungen ersparen können.

Welche Möglichkeiten eröffnet Ihnen die Unterstützung durch das das Clinician Scientist-Programm der Alliance4Rare im Arbeitsalltag, die Sie sonst nicht hätten?

Im klinischen Alltag befassen wir uns häufig mit der Optimierung von Therapien bei seltenen neurologischen Erkrankungen. Durch die Förderung der Alliance4Rare habe ich die Gelegenheit, neben der klinischen Arbeit auch am Verständnis solcher Erkrankungen mitzuwirken. In der Zukunft ist es dann hoffentlich möglich, diese Erkenntnisse in neue therapeutische Optionen für die betroffenen Familien umzusetzen und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zu erhöhen. Ohne eine solche Förderung wäre es nicht möglich, dieses zeitaufwendige Forschungsvorhaben durchzuführen.

Darüber hinaus erhoffen wir uns, die grundlegenden Pathomechanismen hinter den Symptomen besser zu verstehen, um auch Patientinnen und Patienten mit anderen Erkrankungen, die diese Symptome zeigen, helfen zu können. So kann die Erforschung von Seltenen Erkrankungen dazu führen, Symptome von häufigen Erkrankungen besser therapieren zu können. 

DEr Stipendiat
Dr. Simon Badura hat an der Georg-August-Universität Göttingen Humanmedizin studiert. Im Rahmen einer experimentellen Doktorarbeit in der Neuroanatomie Göttingen hat er sich mit der Hirnforschung beschäftigt und arbeitete zudem in der Forschungsgruppe PD Dreha-Kulaczewski, wo er sich sich mit dem Liquorfluss im Zentralnervensystem mittels real-time-MRT-Studien befasste. Die Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in der Pädiatrie der Universitätsmedizin Göttingen schließt er voraussichtlich 2023 ab und beginnt im Anschluss die Fachweiterbildung für Neuropädiatrie.
Junger Arzt in blauem Hemd und weißem Kittel mit Stethoskop um den Hals
Dr. Simon Badura ist Clinician Scientist der Alliance4Rare

"Der Blick ins eigene Erbgut" - Tagesspiegel Patient:innen-Dialogforum

Etwa 80 Prozent aller Seltenen Erkrankungen werden durch Mutationen in einem einzigen Gen verursacht. Die modernen Methoden der Gen-Sequenzierung können hier neue Chancen in der Diagnosefindung bieten – teilweise bereits im Rahmen der pränatalen Diagnostik bzw. des Neugeborenen-Screenings. Gleichzeitig bringt die Genommedizin auch ethisch-rechtliche Herausforderungen mit sich. Welche Chancen und ggf. Risiken sind mit der Genommedizin für Patient:innen verbunden?

Um Patient:innen ohne gesicherte Diagnose und deren Angehörigen eine Plattform zur praktischen Unterstützung und für den Austausch mit Expert:innen zu bieten, lädt der Tagesspiegel Verlag zum 2.Tagesspiegel Patient:innen-Dialogforum: „Der Blick ins eigene Erbgut – Chancen und Herausforderungen der Genommedizin bei Seltenen Erkrankungen“ ein.

Donnerstag, 01. Juni 2023
18:00-20:00 Uhr, Einlass ab 17:30 Uhr

Präsenzveranstaltung im Tagesspiegel-Verlagshaus, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin

im Anschluss Get-Together und Talk mit Expert:innen (bis 21:00 Uhr)

ODER live im Stream (18:00-20:00 Uhr)

Unter den Speaker:innen sind:

Programmflyer

Anmeldung

Hier finden Betroffene Hilfe - Was Zentren für Seltene Erkrankungen leisten können

Beitrag von Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich im Magazin "Leben mit... Seltenen Erkrankungen", erschienen im April 2023.

Manche Erkrankungen sind so selten, dass sie bislang nicht einmal beschrieben sind. Andere sind zwar beschrieben, bekannt aber sind sie nicht – schon gar nicht jedem Arzt und jeder Ärztin. Menschen, die eine Seltene Erkrankung haben oder haben könnten, fühlen sich daher oft allein gelassen und hilflos.

Um diese Situation zu verbessern, wurden in Europa seit 2010 nationale Aktionspläne entwickelt. Der deutsche Nationale Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) benannte als zentrale Maßnahme die Einrichtung von Zentren für Seltene Erkrankungen. 36 solcher „A-Zentren“, zumeist an Universitätskliniken angesiedelt, sind seitdem in Deutschland entstanden.

Die Zentren erfüllen zwei wichtige Aufgaben:

  1. Für Menschen, die bislang keine gesicherte Diagnose erhalten haben, werden Fallkonferenzen unter Einbindung verschiedener Fachrichtungen organisiert, die über weitere Schritte in der Diagnostik entscheiden. Sollten hierfür genetische Untersuchungen oder andere, nicht in der Routine verfügbare Methoden nötig sein, kann dies vom Zentrum eingeleitet werden.

  2. Wurde eine Diagnose gestellt, die einer besonderen Expertise für weitere Diagnostik und Therapie bedarf, gibt es unter dem Dach eines jeden Zentrums mindestens fünf „NAMSE Zentren Typ B“: Diese verfügen über spezielles Fachwissen zu einzelnen seltenen Krankheitsbildern.

Gute Erreichbarkeit und starke Vernetzung

Die Zentren sind über die ganze Bundesrepublik verteilt, so dass eine gute Erreichbarkeit gegeben ist. Die standortübergreifende Zusammenarbeit in einem Netzwerk stellt sicher, dass die notwendige Expertise allen Patientinnen und Patienten ortsunabhängig zugänglich ist. Auch international ermöglicht dies die Einbindung in Europäische Referenznetzwerke für Seltene Erkrankungen (ERN). Sollte eine persönliche Vorstellung notwendig sein, werden den Patientinnen und Patienten konkrete Ansprechpartner empfohlen. Die belastenden, oft einer Odyssee gleichenden Reisen zu verschiedenen Einrichtungen fallen weg.

In jedem Zentrum arbeitet ein „Lotse“ oder  eine „Lotsin“. Diese legen nach der Kontaktaufnahme durch die Patientinnen und Patienten selbst oder deren behandelnde Ärztinnen und Ärzte auf Basis der bereits vorliegenden Befunde und im Austausch mit verschiedenen Fachleuten zeitnah die nächsten wichtigen Schritte fest.

Strukturierte Versorgung verkürzt den Diagnoseweg

Diese Arbeitsweise der Zentren wurde in einem Projekt – TRANSLATE NAMSE, gefördert durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses, – von 2017 bis 2020 erprobt und positiv bewertet: Denn bei etwa einem Drittel der Patientinnen und Patienten, die zuvor mehrere Jahre ohne Diagnose geblieben waren, konnte mit interdisziplinärer Zusammenarbeit, dem Einsatz von Lotsinnen und Lotsen sowie moderner Diagnostik eine gesicherte Diagnose gestellt werden. Zudem wurden neue, bis dahin unbekannte Erkrankungen erkannt.

Damit für Patientinnen, Patienten und Akteure des Gesundheitswesens erkennbar ist, dass ein Zentrum diese Leistungen verlässlich erbringt, wurde eine Begutachtung entwickelt. Acht Zentren haben diesen Prozess bislang erfolgreich durchlaufen.  

Um Betroffene zudem untereinander zu vernetzen, arbeiten die Zentren eng mit Selbsthilfeorganisationen zusammen. Diese haben sich in Deutschland unter dem Dach der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen ACHSE e.V. zusammengeschlossen. Da es jedoch insbesondere bei ultraseltenen Erkrankungen nicht immer Selbsthilfegruppen gibt, wird derzeit auf Initiative der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung ein Nationales Register für Seltene Erkrankungen (NARSE) etabliert. Es wird einen Überblick über die Gruppen der Patientinnen und Patienten in Deutschland geben und ihnen ermöglichen, miteinander in Kontakt zu treten.

Zentren noch zu wenig bekannt

Leider zeigt sich immer wieder, dass die Zentren für Seltene Erkrankungen und ihre Angebote bei vielen niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten nicht ausreichend bekannt sind. Sprechen Sie gerne mit Ihrem behandelnden Arzt oder Ihrer behandelnden Ärztin darüber! Denn falls Sie, Ihr Kind, Angehörige oder Bekannte eine bislang nicht erkannte Seltene Erkrankung haben oder Expertise für eine solche suchen, so sind die Zentren für Seltene Erkrankungen die richtige Adresse.

Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich ist Vorsitzende der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen.

Die webbasierte Informationsplattform se-atlas bietet einen Überblick über die 36 Zentren für Seltene Erkrankungen sowie Selbsthilfeorganisationen in Deutschland. Das Informationsangebot richtet sich an Betroffene, Angehörige, Ärztinnen und Ärzte, nicht medizinisches Personal sowie alle Interessierten.

MCAS – eine Krankheit, die es offiziell nicht gibt

Eine Patientengeschichte

Fast vier Jahre lang bestand mein Leben darin, von Arzt zu Ärztin zu laufen. Ich wollte unbedingt herausfinden: Was fehlt mir? Warum geht es mir immer so schlecht? Woher kommt die teils widersprüchliche Symptomatik? Die Symptome reichten von Magen- und Darmbeschwerden, über asthmaartige Zustände bis hin zu Hautproblemen und Konzentrationsschwierigkeiten.

Leider konnte niemand eine Erklärung für meine Probleme finden. Bei jedem neuen Blutbild, das gemacht wurde, hoffte ich ab einem gewissen Zeitpunkt sogar insgeheim, dass meine Werte schlecht sein würden, damit die Ärztinnen und Ärzte mich endlich ernst nehmen müssten. Aber meine Blutbilder und auch alle weiteren Untersuchungen waren weitestgehend unauffällig. Meine Realität sah allerdings anders aus, als meine Befunde vermuten ließen.

Meinen Job konnte ich schon lange nicht mehr ausführen. Urlaubsreisen, Hobbys oder Besuche bei Verwandten waren auch nicht mehr möglich. Ich war noch gut bedient, wenn meine Geschichte bei Ärzt:innen nur für Stirnrunzeln und fragende Blicke sorgte. Zu leicht wird man in eine „Psychoschublade“ gesteckt - ein Stempel, den man nur schwer wieder loswird. Sätze wie: „Sie müssen mal wieder arbeiten, damit Sie auf andere Gedanken kommen“, helfen wenig.

In meiner Verzweiflung wandte ich mich an ein Zentrum für Seltene Erkrankungen. Das Prozedere ist hier wie folgt: Der Betroffene selbst oder sein behandelnder Arzt beziehungsweise seine behandelnde Ärztin schickt die Geschichte der Patientin sowie alle gesammelten Vorbefunde an ein Team aus Ärzten: innen verschiedener Fachdisziplinen. Das Team bewertet dann den Fall und gibt eine Einschätzung ab. Hierbei wurde erstmals der Verdacht auf das Mastzellaktivierungssyndrom, kurz MCAS, geäußert. Es folgten weitere Untersuchungen und der Verdacht bestätigte sich.

Mastzelle

Leider gestaltet sich die Diagnostik von MCAS oft schwierig. Eine einzelne Untersuchung, die innerhalb von kürzester Zeit Aufschluss darüber gibt, ob man die Erkrankung hat oder nicht, steht bislang noch nicht zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es auch kein einheitliches klinisches Krankheitsbild. Kurz: Selbst für Experten:innen kann es schwierig sein, einzuschätzen, ob ein Patient oder eine Patientin MCAS hat oder nicht. Ich hatte zuvor schon einige Diagnosen erhalten, die sich im Nachhinein als fehlerhaft herausstellten. Daher war ich zunächst etwas skeptisch, als ich die Diagnose MCAS bekam. Von der Therapie, die aus Antihistaminika und sogenannten „Mastzellblockern“ besteht, habe ich mir mehr erhofft. Mein Arzt - einer der wenigen Ärzte, die MCAS diagnostizieren und behandeln - sagt, dass ich für stärkere Medikamente noch nicht „krank genug“ sei. Hier würde das Risiko den Nutzen überwiegen, denn die Nebenwirkungen seien umfangreich.

Therapiemöglichkeiten

Es gibt hierzulande kaum Ärzte: innen, die sich mit MCAS auskennen. Das liegt vor allem auch daran, dass die Erkrankung in Deutschland nicht einmal einen ICD-Code hat. Die internationale Klassifikation von Krankheiten (International Classification of Diseases, ICD) ist ein medizinisches Verzeichnis, in dem alle Krankheiten beschrieben sind. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben und in regelmäßigen Abständen aktualisiert. In der Welt der Medizin bedeutet das übersetzt: Offiziell existiert die Krankheit in Deutschland überhaupt nicht. Andere Länder sind hier schon weiter. Der fehlende ICD-Code hierzulande hat für MCAS-Betroffene unter anderem zur Folge, dass sie viele der nicht selten teuren Medikamente aus eigener Tasche bezahlen müssen. Die Krankenkassen übernehmen keine Kosten für eine Erkrankung, die es offiziell gar nicht gibt. Ich habe gehofft, mit einer Diagnose würde für mich alles besser werden. Leider sieht die Realität anders aus. Ich bin seit der Diagnose kaum einen Schritt weitergekommen. Ein einigermaßen normales Leben ist nicht möglich. Dabei gehöre ich, verglichen mit anderen MCAS-Patient:innen, noch nicht einmal zu den „schwersten Fällen“.

Hoffnung für Betroffene

Herr Prof. Dr. Gerhard J. Molderings – ein Experte auf dem Gebiet der Mastzellerkrankungen vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Bonn – ist überzeugt, dass in Deutschland viel mehr Menschen von der Krankheit betroffen sind als derzeit bekannt. Die Dunkelziffer schätzt er als außerordentlich hoch ein. 

Mit dem MCAS Hope e.V. in Deutschland gibt es nun einen Verein, der sich für MCAS-Betroffene einsetzt. Ich und alle anderen MCAS-Patient:innen wünschen sich vor allen Dingen eines: Wir wollen wieder ein halbwegs normales Leben führen.

Um uns MCAS-Patient:innen wieder mehr Lebensqualität und eine Zukunftsperspektive zu geben, erforschen der MCAS Hope e.V. und das ifid Institut für IT-Management & Digitalisierung der FOM-Hochschule in Düsseldorf die Erkrankung im Rahmen einer multizentrischen Studie mit Hilfe von künstlicher Intelligenz. Beteiligt sind auch Ärzt:innen vom Universitätsklinikum Aachen und der Charité Berlin. 

Hinter der wissenschaftlichen Studie steht kein großes Unternehmen, sondern ein gemeinnütziger Verein. Das Projekt wird durch ehrenamtliches Engagement und Spenden ermöglicht. Weitere Informationen auch über Spendenmöglichkeiten, um die Studie zu unterstützen, finden sich auf der Webseite des Vereins.

*Anmerkung der Redaktion: Der Verfasser dieser Patientengeschichte wünscht, anonym zu bleiben.