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Wissen & Meinung

Auf ein kurzes Gespräch mit…

... mit Prof. Dr. Olaf Rieß, Direktor des Tübinger Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik Die medizinische Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen verbessern: Mit diesem Ziel hat das Verbundprojekt TRANSLATE-NAMSE in den vergangenen drei Jahren Maßnahmen entwickelt und erfolgreich umgesetzt. Hier schildern Projektverantwortliche von TRANSLATE-NAMSE ihre Erfahrungen und Erwartungen.

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Prof. Dr. Olaf Rieß, Direktor des Tübinger Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik

  1. Herr Professor Rieß, was war Ihre Rolle im Innovationsfondsprojekt TRANSLATE-NAMSE und wie haben Sie die Zusammenarbeit mit den anderen Partnern erlebt?

TRANSLATE-NAMSE war und ist ein lebendiges Netzwerk von klinisch tätigen ÄrztInnen, HumangenetikerInnen, genetisch-diagnostisch tätigen Wissenschaftler:innen und von Bioinformatiker:innen mit dem Ziel der besseren Versorgung von Patientinnen und Patienten mit einer Seltenen Erkrankung und einer ständig verbesserten Diagnosestellung für Patienten mit einer unklaren Ursache. Lebendig heißt, interaktiv auf jedem Level der Beteiligten, nach vorn orientiert mit klaren, aber unbürokratischen Strukturen und modern, indem ständig neue Diagnostikmethoden insbesondere auf dem Gebiet der Humangenetik entwickelt und implementiert werden. Ich hatte und habe die Freude, Teil dieses Netzwerkes zu sein. 

  1. Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste Ergebnis des Projekts TRANSLATE-NAMSE?

Das wichtigste Ergebnis ist, dass wir mit TRANSLATE-NAMSE zeigen konnten, dass umfassende Genomsequenzierung („Whole Exom Sequenzierung“) in der Krankenversorgung implementiert werden kann und deutliche Vorteile im Sinne einer diagnostischen Sensitivität im Vergleich zur bisherigen selektiven Genpanelsequenzierung hat. Dieses Konzept hat die Krankenkassen so deutlich überzeugt, dass sie nun mit bestimmten Sequenzierzentren, die in die universitären Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSEs)  integriert sind, Selektivverträge  zur Fortführung des TRANSLATE-NAMSE Netzwerkes abschließen. Darüber hinaus ist das Konzept auch ein wesentlicher Grundpfeiler für die Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, im Rahmen von genomDE und des Modellvorhabens §64e für Patienten mit einer unklaren komplexen Erkrankung eine Gesamtgenomsequenzierung zu ermöglichen. Damit wird Deutschland eines der fortschrittlichsten Länder der Welt mit dem Recht der Patienten mit einer Seltenen Erkrankung auf eine umfassende genetische Diagnostik.

  1. Was hat sich konkret für Menschen mit Seltenen Erkrankungen durch das Projekt verbessert? Wo liegen weiterhin zentrale Herausforderungen?

Insbesondere PatientInnen mit einer ultra-seltenen Erkrankung haben nun die konkrete Chance auf eine schnelle Klärung ihrer Erkrankungsursache. Das Wissen um die Ursache der eigenen Erkrankung ermöglicht den PatientInnen, einen Spezialisten/eine Spezialistin für die Erkrankung zu finden, sich selbst gezielt Wissen über die Erkrankung anzueignen, mit anderen Patienten mit der identischen Erkrankung in Kontakt zu treten und ein erkrankungsbezogenes Krankheitsmanagement, in einzelnen Situationen sogar eine gezielte Therapie, zu erhalten. Am Anfang dieses Prozesses steht immer die klare Diagnose. In diesem Bereich hat TRANSLATE-NAMSE einen Meilenstein der Diagnostik gesetzt. 

  1. Woran werden Sie zukünftig im Bereich Seltener Erkrankungen arbeiten?

Trotz der über TRANSLATE-NAMSE eingeführten Exomdiagnostik lösen wir heute nur bei ca. 40% aller Patienten mit einer SE die Krankheitsursache. Wir wissen um genetische Ursachen von Erkrankungen außerhalb der proteinkodierenden Bereiche des Erbmaterials (das Exom umfasst nur ca. 1-2% des Erbmaterials), die es aufzufinden gilt. Deshalb haben wir unser der Diagnostik für die meisten SE bereits auf Gesamtgenome umgestellt. Die Interpretation dieser Varianten ist sehr komplex, daher sequenzieren wir zeitgleich die sogenannte RNA aus Blut und führen komplexe kombinierte DNA/RNA Analysen durch. Auch wissen wir, dass die momentan in der Diagnostik zu Anwendung kommende Sequenziertechnologie bestimmte komplexe Strukturen der DNA nicht erfassen kann, so dass wir neuartige Sequenziermethoden (long read NGS) für die Diagnostik vorbereiten. Dies bedeutet auch eine ständige Neuentwicklung von bioinformatischen Methoden. Wir nennen dieses Konzept „Solving the unsolved“. Wir koordinieren diesbezüglich ein großes europäisches Netzwerk, welches diese zukünftige „multiOmics-Diagnostikstrategie“ vorbereitet. 

Neben der Diagnostikentwicklung und Ursachenforschung arbeiten auch viele Arbeitsgruppen am Institut an der Erforschung der zellulären Abläufe bei seltenen Erkrankungen, an der Entwicklung von Tiermodellen, und an prä-klinischen Therapiestudien. Auch entwickeln wir Biomarker, um klinische Studien der pharmazeutischen Industrie auf dem Gebiet der SE mit voran zu treiben. 

Schließlich möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass sich sehr viele Kolleginnen und Kollegen auch mit genetisch bedingten Ursachen von Tumorerkrankungen sowie mit genetischen Tumorgewebeanalysen zur zielgerichteten Tumortherapie beschäftigen. 

Hintergrund

Menschen mit einer Seltenen Erkrankung haben oft eine Odyssee von Arztbesuchen und eine Zeit großer Unsicherheit hinter sich, bevor sie und ihre Angehörigen die richtige Diagnose erhalten. Und auch wenn eine Diagnose gestellt werden konnte, ist gute Versorgung häufig nicht gesichert. Um dies zu ändern, wurde 2010 das „Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen – NAMSE“ gegründet und ein Nationaler Aktionsplan für Menschen mit Seltene Erkrankungen erarbeitet. Die Umsetzung ausgewählter zentraler Maßnahmen aus diesem Aktionsplan war Inhalt von TRANSLATE-NAMSE – einem dreijährigen Verbundprojekt von neun Zentren für Seltene Erkrankungen in Deutschland und vier humangenetischen Instituten in Kooperation mit zwei Konsortialkrankenkassen sowie der Allianz Chronisch Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V .
Mittlerweile ist TRANSLATE-NAMSE erfolgreich beendet worden. Die Evaluation hat deutliche Verbesserungen für die Patientinnen und Patienten durch die angewandten neuen Versorgungsformen aufgezeigt. Vom Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem höchsten Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Deutschlands, wurde die Überführung der Projektinhalte in die Regelversorgung kürzlich klar befürwortet. Für die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen stellt diese Entscheidung einen Meilenstein dar.  Vor dem Hintergrund schildern Projektverantwortliche von TRANSLATE-NAMSE hier Ihre Erfahrungen und Erwartungen.

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